100 Jahre Landesverwaltungspflegegesetz
Text: Emanuel Schädler
Wilhelm Beck, der das LVG sowie den besagten Kommissionsbericht ausgearbeitet hatte, stellte es ausdrücklich in den Dienst der mit der Verfassung von 1921 kurz zuvor errungenen Rechtsstaatlichkeit Liechtensteins. Das bedeutete: Nunmehr stand in Verwaltungsangelegenheiten jedem einzelnen Einwohner und jeder einzelnen Einwohnerin, deren Rechte es zu wahren galt, eine an die Gesetze gebundene Landesverwaltung und Regierung gegenüber, gegen deren Vorgehen im Falle von Rechtsverletzungen vor einem hiesigen Verwaltungsgericht («Verwaltungsbeschwerde-Instanz», seit 2003 «Verwaltungsgerichtshof») Beschwerde geführt werden konnte. Einen derart umfassenden und effektiven Rechtsschutz in Verwaltungssachen hatte es zuvor nicht gegeben. Und das LVG wurde zum zentralen Gesetz für dieses neue Verwaltungs(beschwerde)verfahren. Daher rührt auch seine rechtsstaatliche Symbolkraft im Rahmen der Verfassung von 1921: Das LVG steht für nationale Unabhängigkeit und Selbständigkeit in der Verwaltung.
Man betrat mit dem LVG gesetzgeberisches Neuland, so dass es auch zu einer Pioniertat wurde. Wilhelm Beck schuf – seine herangezogenen Quellen sind bis heute nicht restlos geklärt – mit dem LVG in kürzester Zeit eine verwaltungsverfahrensrechtliche Kodifikation, das heisst ein für diesen Bereich umfassendes, systematisches, gesamthaftes Gesetzbuch. Es war 1922 rein chronologisch gesehen das erste solche Gesetz im deutschsprachigen Raum (Österreich 1925, Schweiz 1968, Deutschland 1976) und ist bis heute das bei weitem umfangreichste geblieben.
Daraus erklärt sich auch die ganz eigenartige Erscheinungsform des LVG: Unter Becks Händen wuchs es sozusagen zu einem gesetzlichen Monolithen an, der sich von anderen Gesetzen auffällig unterscheidet, weil er zuweilen eine ungewöhnliche Dichte in seinen Regelungen erreicht, mit Grundsätzen, Ausnahmen, Gegenausnahmen und dazu noch Varianten. Auch sprachlich gibt sich das LVG eigenartig und spricht im Wortlaut bis heute zum Beispiel von «Trölerei» (Prozessverschleppung), «Gedenkmännern» (Zeugen historischer Tatsachen) oder «Friedensbot» (Aufruf zur öffentlichen Ordnung bei Raufereien). Trotz gemeinhin anerkannten Reformbedarfes sind zahlreiche Reformversuche in den vergangenen Jahrzehnten an diesem Monolithen spurlos abgeprallt. Nach 100 Jahren steht er heute noch immer ebenso solide wie eigenwillig in der Landschaft der liechtensteinischen Rechtsordnung.
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Abbildung: Allegorie der Verwaltung mit Steuerruder, Schlüsselbund und Pflug an der Fassade des Regierungsgebäudes in Vaduz. Das Mosaikbild wurde 1910/11 nach Entwürfen des Wiener Malers Rudolf Sagmeister von der Tiroler Glasmalerei- und Mosaikanstalt in Innsbruck ausgeführt (Amt für Kultur, Abteilung Denkmalpflege, Foto: Josef Ineichen, Rupperswil).